Angesichts der Morde in Halle, möchte ich hier ausdrücklich der Opfer gedenken und den Angehörigen meine Anteilnahme aussprechen. Am vergangenen Montag fand für sie, aber auch wegen des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland, eine Mahnwache in Idar-Oberstein statt. Ich danke den Initiatoren! Der gewählte Ort der Veranstaltung, das Denkmal für die jüdischen Menschen, die unter dem NS-Regime ermordet worden waren, hätte nicht sinnreicher gewählt sein können! Das sollte eine Mahnung an uns alle sein. Doch ich möchte angesichts dessen, dass nur 81 Jahre nach den Novemberpogromen von 1938 erneut jüdische Menschen in Deutschland ermordet werden sollten, ausdrücklich aus christlich-theologischer Sicht Position beziehen.
Ich erinnere an ein Wort der Bibel aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ Mit dieser Aussage verpflichtet Paulus die christliche Gemeinde – sich bewusst zu sein, dass Gottes Erwählung des jüdischen Volkes unwiderruflich ist (!), aber auch, dass die Existenz der Kirche an dieser „Wurzel“ hängt. Der Theologe Karl Barth in seiner kirchlichen Dogmatik interpretiert daher: “Gegenstand der Erwählung ist weder Israel für sich, noch auch die Kirche für sich, sondern beide in ihrer Einheit.“ KD II/2 § 34. Ich denke, das Judentum braucht die christliche Kirche nicht, aber wir brauchen das Judentum, denn Jesus aus Nazareth war Jude.
Christliches Selbstverständnis ohne Rückbindung an die ganze biblische Überlieferung des sogenannten Alten und Neuen Testaments und ohne ein gemeinsames Lernen mit Juden und Jüdinnen geht in die Irre. Leider ist dies längst nicht überall in den christlichen Kirchen bewusst. Wir brauchen noch immer eine nachhaltige und radikale Abkehr von antijüdischen Stereotypen. Jahrhundertelang hat eine, ihre jüdischen Wurzeln verleugnende, christliche Theologie und kirchliche Verkündigung, unsere gesamte Kultur geprägt. Nicht nur Christinnen und Christen, sondern alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sollten sich dessen bewusst sein und aufmerksam jeglichen Antisemitismus zurückweisen. Auch und insbesondere, wenn er wie ein Wolf im Schafspelz christlich verbrämt daherkommt. Lassen Sie uns wachsam sein und mutig widerstehen!
Jutta Walber, Superintendentin des Kirchenkreises Obere Nahe