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Wochenimpuls: Auf die Seele warten

Ein Mann saß nach seiner ersten Eisenbahnfahrt in die Stadt dort noch lange auf seinem Koffer am Bahnsteig. Warum er nicht weitergehe, fragten vorbeieilende Passanten. Er warte auf seine Seele. Sie sei so schnell nicht mitgekommen.

Körper und Seele in Einklang zu bringen – das gelingt uns gerade in diesen Zeiten nicht wirklich, hätten wir doch jetzt endlich die Zeit dazu. Zu vieles beschäftigt uns, macht uns Sorgen und beunruhigt unsere Seele. Obwohl unser Lebenszug lange nicht mehr so schnell fährt wie noch vor zwei Wochen, hat unsere Seele gerade jetzt viel zu verarbeiten.

Vor ein paar Wochen habe ich mir noch noch oft die Frage gestellt: Kommt meine Seele mit, wenn ich durch die Tage und Wochen eile? Manchen Abend saß ich auf der Couch und fragte, wo die Zeit geblieben ist. „Habe ich heute gelebt? Oder war ich nur ein Rädchen im Getriebe, eine Getriebene?“ Nicht selten bin ich auch selbst diejenige, die antreibt, weil ich dieses oder jenes noch schnell erledigen möchte.

Meine freien Zeiten sind dann oft genauso durchgetaktet. Möglichst viel will ich in diese Zeit reinpacken, die ich mir selbst außerhalb der Schule einteilen kann.

Ars vivendi, Lebenskunst, nannte man einmal das Geschick, mit sich selbst, seinem Schöpfer und der Welt im Einklang zu leben. Heute spricht man von der life-work-balance. Die Balance zu finden zwischen Arbeit und Ruhe, Reden und Schweigen, Gemeinschaft und Einsamkeit. Die Zeit erfüllt zu leben, jeden Augenblick, Lachen und Weinen, Abschiednehmen und Wiedersehen.

Im Moment fährt unser Lebenszug langsamer.

Mir scheint, als dass wir gerade jetzt in einer Zeit leben, die neben all der Unsicherheit und Angst etwas Verlorengegangenes bereithält: Zeit! Zeit für mich selbst, Zeit für die Familie, Zeit für Gespräche am Telefon, Zeit für ein gutes Buch, Zeit zum Spielen mit den Kindern, Zeit zum Briefe schreiben, Zeit, um Liegengebliebenes aufzuarbeiten – in Ruhe!

Diese erzwungene Auszeit gibt mir die einzigartige Möglichkeit, regelmäßig zur Ruhe zu kommen, stehen zu bleiben, ein- und auszuatmen, ganz bewusst. Und ich merke, es tut mir gut.

Ich höre nach innen, halte die Stille aus. Gedanken kommen und gehen. Ich halte sie nicht fest. Ein Symbol, ein Bild, ein Wort, ein kurzer Bibeltext helfen mir, mich zu sammeln.

Dabei vergesse ich nicht, dass auf dieser Welt, um mich herum längst nicht alles gut ist und ich selbst bin mir im Klaren darüber, dass unser Leben verletzlich ist. Ich bewundere all die Menschen, die in diesen Zeiten Enormes leisten, die täglich über ihre Grenzen gehen und bin ihnen in Gedanken sehr dankbar. Für sie hoffe ich, dass auch sie Zeiten der Erholung finden, des Auftankens für die Aufgaben, die noch auf sie warten.

In dieser Zeit spüre ich die Chance, mir täglich eine „Stille Zeit“ zu nehmen. Es gelingt mir nicht jeden Tag. Vieles überrrennt mich auch jetzt noch, macht mir zu Schaffen. Doch die Ruhe hilft mir, mich darin nicht total zu verlieren.

Wie jener Mann auf dem Koffer warte ich, bis meine Seele ankommt.

In diesem Sinne, bleibt bewahrt,

Dorothee Lorentz