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Nachrichtenarchiv

"Wir brauchen eine intensivere Arbeit mit statt für Migranten"

Die Suchtberatung im Diakonischen Werk Obere Nahe berichtet von ihren Erfahrungen und Rückschlüssen aus dem Projekt „Suchtberatung für Flüchtlinge und Migranten“.

Birkenfeld/Idar-Oberstein. 2019 startete in der Suchtberatung des Diakonischen Werkes das durch das Integrationskonzept des Nationalparklandkreises Birkenfeld finanzierte Projekt „Suchtberatung für Flüchtlinge und Migranten“. Wir konnten zahlreiche Erfahrungen sammeln, aus denen wir Rückschlüsse für die weitere Arbeit im Bereich Migration ziehen, die sowohl eine weitere Anpassung unserer Arbeit auf die speziellen Bedürfnisse erfordern, aber auch Veränderungen der Rahmenbedingungen bedürfen.

Zu den Erfahrungen:

Wie erwartet, kamen bisher eher wenige Beratungen mit Menschen, die ab 2015 in die BRD migriert sind, zustande. Dies hat verschiedene Gründe:

  • Der Bedarf an Unterstützung bei Migranten besteht zuerst im existentiellen Bereich: Unterkunft und Versorgung müssen sichergestellt sein, Aufenthaltsfragen bedürfen der Klärung, Sprache muss erlernt werden, ein Kennenlernen der Umgebung und der kulturellen Gepflogenheiten folgen. Kontakte im Sozial- und Hilfesystem entstehen erst zu Ausländerbehörden und Beratungsstellen, die bei der Klärung des Aufenthalts und der finanziellen Versorgung unterstützen, wie z.B. der Flüchtlingssozialarbeit im DWON. Problematisches Konsumverhalten entsteht nicht plötzlich, sondern verfestigt sich über einen längeren Zeitraum. Der Bedarf an Beratung wird oft erst bemerkt, wenn das Verhalten sich verfestigt hat.
  • Menschen aus arabischen/persischen Kulturen haben ein anderes Verständnis von Sucht und einen anderen Umgang damit. Sucht wird nicht als Erkrankung angesehen, es besteht kein Bewusstsein, dass es hierzu Unterstützungsbedarf und -möglichkeiten gibt. Suchtverhalten ist unter Migranten noch ausgeprägter tabuisiert als es ohnehin in unserer Kultur der Fall ist, die Schwelle zur Beratung ist dadurch noch größer. In ihrer Heimat greifen andere Hilfestrukturen, und in Deutschland muss erst Vertrauen in unser Wohlfahrts- und Sozialsystem wachsen.

Die Beratungsarbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund gestaltete sich aus folgenden Gründen oftmals sehr zeitintensiv:

  • Sprachliche Barrieren erschweren das Gespräch.
  • Der Vertrauensaufbau dauert länger.
  • Unkenntnis über das soziale System und Gesetzesgrundlagen erfordern umfangreiche Informationsvermittlung und ausführliche Besprechung.
  • Gesellschaftliche Gepflogenheiten müssen besprochen werden, z.B. die Bedeutung von Schriftstücken, das Einhalten von Terminen.
  • Es ist mehr konkrete, praktische Hilfe erforderlich, z.B. beim Stellen von Anträgen durch Hilfe beim Ausfüllen oder Führen von Telefonaten oder Begleitung zu Terminen.

In Gesprächen mit ehrenamtlichen Übersetzern haben sich folgende Hürden herausgestellt:

  • Oft wird nicht alles übersetzt. Es entsteht ein Gespräch zwischen Klient/in und Übersetzer/in. Die/der Berater/in ist nicht über den kompletten Gesprächsinhalt informiert und kann nicht entsprechend intervenieren.
  • Bei indirekter Kommunikation über einen Übersetzer ist der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses erschwert bzw. braucht noch länger.

Es gab unverhältnismäßig viele Kriseninterventionen. Dies ist wahrscheinlich auf die Unkenntnis bezüglich Gesetzesgrundlagen und formaler Hintergründe und kulturelle Unterschiede zurückzuführen. Klienten haben sich dann gemeldet, wenn die Problemlage so massiv war, dass existenzielle Bedürfnisse bedroht waren. Es besteht ein geringes Bewusstsein zum einen für die Folgen verschiedener Handlungen (oder deren Unterlassen, wie z.B. Einhaltung von Fristen) und zum anderen darüber, dass und wo es Unterstützung gibt.

Menschen mit Migrationshintergrund haben genau die gleichen Probleme wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Die Risikofaktoren, an einer Sucht zu erkranken, liegen hier genauso vor. Dennoch ergeben sich bei Menschen mit Migrationshintergrund zusätzliche Risiken, die das Erkranken an einer Sucht bedingen können:

  • Sprachbarrieren
  • Unwissenheit über mögliche Hilfsangebote und Strukturen
  • Kulturell bedingte Einstellungen/Erfahrungen aus dem Herkunftsland (Familie, Religion, Verhältnis Bürger – Institutionen etc.)
  • Besonderer Genderaspekt
  • Vorurteile auf beiden Seiten
  • Stellung/Position/Ansehen
  • Ungeklärter Aufenthaltsstatus
  • Schlechtere oder nicht anerkannte (Aus-) Bildung
  • Schlechtere Chancen im Bildungssystem

Oft gibt es tiefliegende, sehr persönliche Themen in der Beratung. Um gute Suchtberatung durchführen zu können, sind Kommunikation und Vertrauen von besonderer Bedeutung. Oft kommen zur Suchterkrankung noch weitere psychische Erkrankungen, bei Fluchterfahrung insbesondere PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) oder Depression, so dass therapeutische Beratung notwendig ist. Aufgrund der Sprachbarrieren und der kulturellen Unterschiede liegen hier jedoch große Hürden für die Beratung vor.

Rückschlüsse und Erforderlichkeiten

Die Erfahrungen aus dem Projekt haben uns ermöglicht, die besonderen Bedarfe in der Arbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund zu erkennen. Wir konnten uns fachlich und anhand einzelner Beratungsfälle gut auf die Zielgruppe einstellen und unsere Kompetenzen bezüglich Kultursensibilität und interkulturellem Wissen erweitern.

Weitaus schwieriger ist es, dass wir stärker mit statt für die Zielgruppe arbeiten müssen. Gerade in der Suchtberatung erfordert die Aufarbeitung der Sucht- und Lebensgeschichte und die Stabilisierung der Lebensverhältnisse durch Veränderung der Konsummuster ein intensives Vertrauensverhältnis, das langsam aufgebaut werden muss. Der Zugang zu Beratungsangeboten ist hochschwellig für Menschen mit Migrationshintergrund aufgrund der kulturellen Unterschiede und der Sprachbarrieren. Es bedarf anderer Zugangsmöglichkeiten und eine intensivere Arbeit mit statt für Migranten. Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund müssen stärker in unser soziales System eingebunden werden, d. h. dieses nicht als Kunden nutzen, sondern aktiv mitgestalten.

Durch das Projekt und den Fokus, den wir zwölf Monate auf eine neue und wachsende Klientengruppe gelegt haben, wurde unsere Ansicht bestätigt, dass wir keine Untergruppen mit spezialisierter Beratung für Deutsche, EU-Bürger, Syrer etc. brauchen, sondern die Offenheit, Lernbereitschaft und Sensibilität, um fremde kulturelle Aspekte als solche zu erkennen, aufzunehmen, wertschätzend darauf zu reagieren und sie soweit es geht in die fachliche Beratung einzubinden. Eine Angleichung an deutsche Verhältnisse bei geflüchteten Menschen anzustreben, ist kein Weg, mit dem wir sie als Klientinnen und Klienten erreichen. Ein allgemeiner Leitfaden für Beratung bei Migration ist nicht erstrebenswert. Suchtberatung ist immer individuell und sehr divers, Beratungsangebote stehen grundsätzlich allen Menschen offen. Kultursensible Aspekte sind dabei zu beachten.

Um zukünftig eine bedarfsgerechte professionelle Beratung für Menschen mit Migrationshintergrund anbieten zu können, ist nicht nur Veränderung im Angebot der Suchtberatungsstelle notwendig, es erfordert vielmehr Veränderungen in den Rahmenstrukturen / politischen Gegebenheiten:

 

  • Um eine adäquate Beratung anbieten zu können, ist viel Zeit notwendig. Ohne eigens geförderten Stellenanteil kann diese Tätigkeit nicht im erforderlichen Ausmaß ausgeführt werden.
  • Es besteht ein dringender Bedarf an professionellen Übersetzern bzw. an Beratungsmöglichkeiten durch Muttersprachler.
  • Es bedarf mehr Information und Auskunft (auch durch offizielle Stellen, Behörden, Ämter) über gesetzliche Ansprüche und Verpflichtungen.
  • Es bedarf einer besseren und schnelleren Versorgung mit Psychotherapieplätzen. Hier gibt es grundsätzlich zu lange Wartezeiten, insbesondere wenn es um die Behandlung von Traumata geht. Für Menschen mit Migrationshintergrund bedarf es zusätzlich der Möglichkeit in Muttersprache Behandlung in Anspruch nehmen zu können.

 

Kontakt:: Hier geht es zur Homepage

Diakonisches Werk des Kirchenkreises Obere Nahe
Suchtberatung
Pappelstraße 1

55743 Idar-Oberstein

Tel.: 06781-5163 560
E-Mail: suchtberatung(at)obere-nahe.de

 

Tabuthema Konsumsucht: In Familien mit Migrationshintergrund ist diese Suchtform noch stärker tabuisiert als im westeuropäisch, christlich geprägten kulturellen Umfeld. Bildnachweis: sabinevanerp/pixabay.com