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An(ge)dacht: Solidarität buchstabieren

Während des Lockdowns hat Pfarrerin Dorothee Lorentz fast täglich mit uns über ihren Tagesimpuls ihre Gedanken geteilt. Heute denkt sie nach über den Werdegang der Solidarität.

Die Welt steht Kopf! Und ich weiß manchmal nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Trotz Ferien kann ich nicht so recht entspannen. Ich überlege, welches Verhalten im Umgang mit anderen richtig ist, was angemessen. Das geht los bei der Begrüßung von lieben Freunden und endet bei der Stornierung unseres Urlaubs.

Corona hat die Welt verändert. Ein Virus, vor dem die Weltgemeinschaft in die Knie geht.

Vor vier Monaten, als der Lockdown kam, staunte ich über die Solidarität so vieler Menschen. Mit einem Mal schienen der Kreativität und Phantasie keine Grenzen gesetzt. Allen gemeinsam war das Ziel, eine gesundheitliche Katastrophe zu verhindern. Und dank der politischen Umsicht und der Arbeit so vieler Menschen, ist sie bis heute jedenfalls in unserem Land ausgeblieben. Dafür bin ich sehr dankbar.

Trotzdem habe ich auch eine andere Beobachtung gemacht, die mich sehr nachdenklich macht. Die globale Ungerechtigkeit in dieser Zeit kommt meiner Meinung nach jetzt noch mehr zum Vorschein als in den letzten Jahrzehnten.

Nachdem die Schulen, die Gaststätten, die Reiseländer schrittweise öffneten, die Ferien nun in allen Bundesländern im vollen Gange sind, hat sich etwas verändert. Nur vier Monate später, sind anscheinend die Bilder von den mit Särgen beladenen Militärfahrzeugen in Italien vergessen.

Ich verstehe, dass aus Rücksicht auf die Wirtschaft viele Zugeständnisse in den letzten Wochen gemacht wurden. Doch im weltweiten Vergleich ist unsere Situation hier immer noch sehr komfortabel.

Aber: Wir diskutierten tatsächlich darüber, ob die großen Fußballvereine Geisterspiele austragen sollten, während in afrikanischen Ländern Kinder verhungern. Nach den Vereinigten Arabischen Emiraten und China schickte auch die NASA ihre Rakete auf den Mars. Die Entwicklung kostete 2,2 Milliarden Euro. Geld, das in der Forschung von Impfstoffen und Medikamenten gut hätte genutzt werden können.Menschen hierzulande fühlen sich in ihrer Freiheit eingeschränkt und klagen darüber, dass sie nicht sorglos in Urlaub fahren können. Zur gleichen Zeit wissen Menschen in Kriegsgebieten nicht, wie sie an sauberes Trinkwasser kommen können.

Gegen die Corona-Schutzmaßnahmen demonstrieren Tausende in Berlin, die nicht verstehen, dass AHA (Abstand-Hygiene-Atemmasken) zum jetzigen Zeitpunkt die einzige Möglichkeit ist, eine Katastrophe zu verhindern. Zeitgleich flüchten Menschen aus Kriegsgebieten und können sich nicht vor dem Covid-19-Virus schützen.

Die Welt steht Kopf und das Ungleichgewicht weltweit nimmt zu. Das ist kaum auszuhalten.

Die Würde des Menschen ist unantastbar – so steht es in den Menschenrechten und in unserem Grundgesetz. Um sie zu schützen, müssen wir Verantwortung übernehmen, für uns selbst, für unsere Mitmenschen, für die Welt.

Ich wünsche mir wieder die Solidarität und die gegenseitige Rücksichtnahme, wie wir sie am Anfang der Pandemie erlebt haben. Wenn wir als Weltgemeinschaft überleben wollen, dann kommen wir nicht umhin, uns die Frage nach dem, was wirklich wichtig ist, zu stellen.

Auch wenn wir bis heute weitestgehend in unserem Land verschont wurden, können wir nicht ausblenden, was global geschieht.

Wie lässt sich also Solidarität heute buchstabieren?

Solidarität bedeutet zunächst einmal, dass wir die Situation nicht verharmlosen und die Lage der Hilfsbedürftigen wahrnehmen. Das heißt weg vom Eigennutz und Profitdenken, hin zum Mitgefühl und zur Mitmenschlichkeit. Jeder und jede von uns trägt Verantwortung.  

Die Krise ist noch nicht vorbei und wir alle brauchen einen langen Atem. Das funktioniert nur, wenn wir alle zusammenarbeiten und Rücksicht nehmen.

Und global gesehen? Kinder in Afrika dürfen nicht länger verhungern. Der Mars kann warten! Hier auf der Erde muss die Not gelindert werden. Darauf muss sich die Weltpolitik konzentrieren, auch wenn der eine oder die andere von uns dann nicht mehr alles sofort und zu jeder Zeit zur Verfügung hat. Das Leben der Schwächsten zu schützen ist unsere menschliche Aufgabe, eine mutige, aber machbare!

Dorothee Lorentz, Pfarrerin an der BBS Idar-Oberstein, Harald-Fissler-Schule